Wim Wenders

Wir haben uns an unästhetische Bilder gewöhnt.

Wim Wenders im Gespräch über Kriegsfotografie, den Selfie-Kult und seinen neuen Film „Das Salz der Erde“, einem Portrait über den Fotografen Sebastião Salgado, der gerade in den Kinos gestartet ist.

Wim Wenders

© Donata Wenders / NFP*

Wim Wenders, ist der Titel Ihres neuen Films „Das Salz der Erde“ eher eine Anlehnung an den Song „Salt of the Earth“ der Rolling Stones oder doch ein Jesus-Zitat aus dem Neuen Testament?
Wim Wenders: Die Rolling Stones haben da auch schon die Bibel zitiert. Aber es gibt auch einen Film mit diesem Titel. Er ist ein Lieblingsfilm von mir, von dem amerikanischen Regisseur Herbert J. Biberman. Er zählte zu den Hollywood Ten, jenen Regisseuren, Autoren und Schauspielern, die sich geweigert haben, vor dem „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ auszusagen und dafür 1948 ins Gefängnis wanderten. Seinen schwarz/weiß-Film „Das Salz der Erde“ hat er Anfang der 50er Jahre in New Mexcio gedreht. Er handelt von einem Minenarbeiterstreik. Mittlerweile ist er einer der wenigen Filme, auf die keine Urheberrechte mehr geltend gemacht werden. Er ist öffentliches Eigentum. Jeder kann ihn aufführen und auch über seinen Titel verfügen. Während der Dreharbeiten hatten wir allerdings noch keinen richtigen Titel, wir haben ihn erst ganz am Schluss der Schneidearbeiten gefunden.

Mit dem „Salz der Erde“ sind gemeinhin Menschen gemeint, die sich nützlich machen oder im biblischen Sinne zu „Lichtern der Welt“ werden. Ihr Film zeigt hingegen so viele Bilder von Elend und Katastrophen, dass man sich fragt, ob sein Titel ironisch gemeint ist.
Wenders: Es geht in dem Bibeltext ja auch darum, dass man „unsalzig“ werden kann, schal und unbrauchbar und „von den Menschen zertreten wird“. Gerade deswegen hat Salgado ja fast den Verstand verloren, weil er die Gewalt, die sich Menschen antun, nicht mehr ausgehalten hat, weil er nicht mehr an die Menschen und ihre „Salzigkeit“ glauben konnte. Ich finde, dass das ein guter Titel ist, nicht zuletzt, weil auch Sebastião Salgado für seine Foto-Serien „Exodus“ und „Genesis“ biblische Titel benutzt hat. Er hat in Südamerika zudem sehr lange mit Arbeiterpriestern zusammengearbeitet und ist mit denen viel gereist, zur Zeit der Befreiungstheologie. Insofern hat auch er durchaus Bezugspunkte zu dem Jesus-Wort vom „Salz der Erde.“

Wie ist Ihre Freundschaft mit dem Fotografen Sebastião Salgado entstanden?
Wenders: Ich kenne seine Arbeit seit fast 25 Jahren und es war immer ein Wunsch von mir, ihn einmal zu treffen. Vor fünf Jahren sind wir uns dann zum ersten Mal begegnet, in Paris. Wir haben festgestellt, dass ich in Paris jahrelang in direkter Nachbarschaft seines Büros gewohnt hatte, wir hätten uns also auch so beim Spaziergang oder beim Gemüsehändler treffen können. Er hat mir dann sein Studio gezeigt und wir haben uns danach mehrfach getroffen, unsere gemeinsame Liebe zum Fußball entdeckt und viel über Fotografie gesprochen.

Zitiert

Die heutige Fotografie hat oft keinen Standpunkt mehr.

Wim Wenders

Vor sechs Jahren hatten Sie gerade Ihren Film „Palermo Shooting“, mit dem Toten-Hosen-Sänger Campino als Fotografen in der Hauptrolle fertiggestellt. War das der Anlass, auch einen Dokumentarfilm über einen echten Fotografen zu drehen?
Wenders: Nein. Die Idee kam von Sebastião selbst. Als wir uns trafen, war er mittendrin in seinem Projekt „Genesis“, für das er auf der ganzen Welt noch unberührte Naturräume fotografierte. Eines Tages wandte er sich mit der Frage an mich, ob ich mir für diese Arbeit auch eine andere Art der Präsentation vorstellen könnte, auf einer Leinwand zum Beispiel? Da habe ich eine Weile drüber nachgedacht und ihm dann geantwortet: Das geht nicht, das wird eine Dia-Show, und selbst wenn du da Musik drunter legst, das ist alles Mist. Aber weil er mir bis dahin schon viele Fotos gezeigt und immer so großartig darüber erzählt hatte, wusste ich, dass er ein großer Geschichtenerzähler war. Also habe ich dann irgendwann gesagt: Auf der Leinwand brauchen deine Bilder Geleitschutz, und die haben sie nur, wenn du dazu die Geschichten erzählst, die du mir erzählt hast. Sonst würde der Film beliebig.

Geschichten zu erzählen ist das eine, vor der Kamera zu stehen aber etwas völlig anderes.
Wenders: Sebastião hat in der Tat überhaupt kein schauspielerisches Talent. (lacht) Er ist absolut scheu, kein öffentlicher Mensch. Er war auch bei den Pressereisen für den Film nicht dabei. Seiner Meinung nach hat es gereicht, dass er einmal gefilmt worden ist. Dass es überhaupt dazu kam, lag nicht zuletzt an seinem Sohn Juliano, der ja auch Filmemacher ist. Die beiden hatten das Projekt eines Filmes schon lange mit sich herumgetragen, aber sie fanden, dass sie auf jeden Fall eine andere, zusätzliche Perspektive bräuchten, die eines Außenseiters. Also hat er kam er irgendwann wieder auf meine Idee zurück: „Das mit dem Geschichtenerzählen, das könnte man doch eigentlich machen, oder? Und wenn ich die Geschichten jemandem erzähle, warum nicht dir?“ Damit fing unser Film an.

Wie haben Sie mit dem scheuen Fotografen vor der Kamera gearbeitet?
Wenders: Wir sind sein Gesamtwerk durchgegangen. Zweimal. Beim ersten Mal haben wir lange Zeit konventionell gedreht. Wir haben an einem Tisch gesessen, wurden mit zwei Kameras gefilmt, wie wir uns seine Bilder anschauten. Das hat Wochen gedauert. Am Ende kannte ich sein ganzes Werk, wusste alle Hintergründe und stellte fest, dass die besten Momente in dem gedrehten Material jene waren, in denen Sebastião mich vergessen hatte, ganz in seine Erinnerung und seine Bilder eingetaucht war. Also haben wir uns eine neue Situation ausgedacht, ihn in eine dunkle Kammer vor einem umgebauten und zweckentfremdeten Teleprompter gesetzt. Auf diesem sah er nur seine Bilder, sonst nichts. Die Kamera und ich dahinter waren für ihn unsichtbar. So konnten wir ihn ganz frontal filmen, ohne dass er etwas anderes als seine Bilder im Blick hatte. So sind wir alles noch einmal durchgegangen, viel intimer. Ich brauchte nur noch langsam die Bilder zu wechseln, im Fluss seiner Erzählung.

Spätestens im Schneideraum mussten Sie sich dann aber mit Ihrem Co-Regisseur Juliano Salgado auf einen gemeinsamen Film einigen. Fiel Ihnen das schwer?
Wenders: Das war für uns beide nicht einfach. Jeder hat ja seine eigene Version des Films im Kopf. Überhaupt, am Schneidetisch jemand anderen an das eigene Material ranzulassen, das habe ich noch nie zuvor gemacht. Und Juliano auch nicht. Wir waren gezwungen, diverse Egotrips hinter uns zu lassen, um schließlich gemeinsam etwas zu schaffen, was weder nur ihm noch nur mir gehörte, sondern uns zusammen. Es war eine große Erfahrung, dass das Ergebnis dieser „Selbstüberwindung“ dann alles überstieg, was jeder von uns hätte alleine machen können.

Bild von Sebastião Salgado: Blinde Tuareg-Frau © Sebastião SALGADO / Amazonas images

Foto von Sebastião Salgado: Blinde Tuareg-Frau © Sebastião SALGADO / Amazonas images

Zu Sebastião Salgados bekanntesten Arbeiten zählen seine Fotoserien aus Kriegs- und Katastrophengebieten. Der Fotograf Christoph Bangert hat gerade mit seinem Buch „War Porn“ dafür plädiert, dass unsere Gesellschaft sich mit Bildern des Krieges konfrontieren müsse, bis hin zu Fotos von Opfern, von zerstörten Körpern. Wie sehen Sie das? Muss es Grenzen des Zeigbaren geben?
Wenders: Dazu gibt es natürlich die verschiedensten Ansätze. Ich denke, es kommt alles auf die Haltung des Fotografierenden an. Sebastiãos Ansatz ist höchst radikal: Er nimmt sich Zeit! Die meisten Kriegsfotografen werden eingeflogen und verschwinden bald wieder mit dem Hubschrauber. Aber zum Beispiel in Ruanda blieb Sebastião monatelang vor Ort. Als Fotograf hat er schon früh angefangen, sich vom Gros seiner Kollegen abzugrenzen, indem er tief in die jeweilige Situation rein ging und mit den Menschen lebte. Das gab ihm auch Autorität, für diese Menschen zu sprechen, zu ihrer Stimme zu werden. Auf diese Art hat er auch eine Sprache und eine Ästhetik entwickelt, die sich nie selbst genug ist. Es geht immer nur um die Menschen. Und ihre Würde. Salgados Arbeit ist vor allem eine des Respektes. Für den respektvollen Blick für die Lebenden, und für die Toten, gibt es keine Grenze.

Ist die Fotografie heute generell respektloser geworden?
Wenders: Ob es sich um Kriegsfotografie handelt oder um so etwas wie das Selfie – in vielerlei Hinsicht haben wir heute eine Fotografie, die keinen Standpunkt mehr hat. Sie ist aus der Hüfte geschossen oder zufällig entstanden. Oder eben beliebig. Sie ist sozusagen autorenlos. Wir haben uns ja auch an tausende von Bildern gewöhnt, die unästhetisch oder völlig verpixelt sind oder von irgendwelchen Security-Kameras stammen. Das ist eine andere Art Wahrheit zu sehen, als auf Fotos, hinter denen wirklich jemand steht, ein menschliches und moralisch reagierendes Auge nämlich. Und natürlich ist Fotografie heute auch in ein anderes Umfeld geraten, weil jeder fotografiert. Jeder Soldat kann auch Selfies machen, bis hin zu den Folterfotos, die wir alle gesehen haben.

Ziehen Sie für sich selbst eine Grenze, was Sie anschauen möchten? Aus ethischen oder ästhetischen Gründen?
Wenders: Wenn ich den Blick hinter einem Bild nicht spüre, den Willen, ein gutes Bild zu machen, weiß ich nicht, ob ich es mir antun soll. Ich glaube, dass es schon von Achtung zeugt, wenn man ein möglichst gutes Bild machen will. Das ist eine Ehrerweisung, an den Ort, den Menschen oder die Situation vor der Kamera. Die Ästhetik von Sebastiãos Bildern, seine Schwarzweiß-Ästhetik, die er ganz außerordentlich weit getrieben hat, soll ja nicht einfach Eindruck schinden. Sie hat keinen anderen Sinn, als die Menschen und die Orte, die er besucht hat, so beeindruckend und echt wie möglich abzubilden. Seine oberste Maxime ist und war, die Würde der Menschen, die er fotografierte, intakt zu lassen oder wieder herzustellen.

Foto von Sebastião Salgado: In der Goldmine Serra Pelada © Sebastião SALGADO / Amazonas images

Foto von Sebastião Salgado: In der Goldmine Serra Pelada © Sebastião SALGADO / Amazonas images


Ihr Film erzählt auch davon, wie
Sebastião Salgado nach seiner Arbeit in Ruanda in Depressionen verfiel und keinen Sinn mehr in seiner Arbeit sah. Ging es Ihnen beim Betrachten seiner Bilder manchmal ähnlich?
Wenders: Wir haben auch manchmal den Monitor abgestellt beim Schneiden, weil wir nicht mehr hinschauen konnten. Weil uns die nackte Verzweiflung gepackt hat. Aber ich bin ein hoffnungsloser Optimist und glaube, dass Menschen lernfähig sind. Allerdings wird auch mein Optimismus in letzter Zeit auf harte Proben gestellt. Gott sei Dank bin ich kein Politiker, ich wüsste auch nicht, was man da machen sollte. Was soll man in Palästina machen? Weiß ich nicht. Oder zur Menschenverachtung des „Islamischen Staats“? Sebastião hat irgendwann gesagt: Ich kann nicht mehr, ich mag nicht mehr, ich will nicht als Zyniker weiter Fotos machen. Also höre ich lieber auf. Das hat er dann auch konsequent gemacht. Zur Natur-Fotografie hat er dann erst später gefunden, nachdem seiner Frau und ihm dieses Wunder passiert ist.

Sie meinen die Gründung des Instituto Terra, von dem Sie im letzten Teil von „Das Salz der Erde“ erzählen.
Wenders: Ja. Am Anfang stand die Ranch seines Vaters. Die tropischen Regenwälder drum herum waren seit Sebastiãos Kindheit abgeholzt worden, das Land wurde zur Steppe. Um nach dem Tod seines Vaters diesen Ort zu ehren, begann die Familie Salgado wieder damit, Bäume zu pflanzen. Und plötzlich sprudelten dort wieder Quellen, das Wasser kam zurück. Also pflanzten sie immer mehr Bäume, hunderttausende. Zweieinhalb Millionen inzwischen! Mittlerweile fließen ein paar tausend Quellen wieder, und als nächstes hoffen sie, ihren Fluss dort wieder schiffbar zu machen. Auch das wäre möglich, das wissen sie jetzt. Man kann Zerstörung rückgängig machen! Das ist natürlich eine Wahnsinnsbotschaft in dieser Zeit, wo wir immer hören: Der Planet geht den Bach runter. Die Salgados haben eine Wiederaufforstung angeschoben, die nun längst keine private Angelegenheit mehr ist, sondern in Brasilien im großen Stil betrieben wird.

Um noch einmal zum Anfang zurückzukommen: Der Rolling-Stones-Song „Salt of the Earth“ beschließt das Album „Beggars Banquet“, auf dem zuvor auch der „Street Fighting Man“ besungen wird. Lohnt es sich also nur, „auf die Straße zu gehen“, zu protestieren, wenn man auch bereit ist, zum „Salz der Erde“ zu werden?
Wenders: Da würde ich durchaus zustimmen. Obwohl im Fall der Rolling Stones beides nur Pose war, um das mal so hart zu sagen. Geglaubt haben sie weder an den Straßenkampf, noch an die „hart arbeitenden Menschen“, über den sie in „Salt of the Earth“ singen.

Haben Sie den Stones ihre Texte geglaubt, als Sie sie zum ersten Mal gehört haben?
Wenders: Für eine Weile, ja. Als es „One Plus One“ gab, den Dokumentarfilm von Godard, der Aufnahmen aus der Zeit von „Beggars Banquet“ zeigt, da habe ich geglaubt, dass die Stones tatsächlich Rebellen sind. Dann ist es mir aber langsam klar geworden, dass sie die Rebellen nur gespielt haben. Trotzdem höre ich sie nach wir vor gerne. Das eine muss das andere ja nicht ausschließen.

Könnte man in dem Fall von einer musikalischen Selfie-Kultur sprechen?
Wenders: So ziemlich, ja.

Machen Sie mit Ihrem Handy eigentlich auch Selfies?
Wenders: Klar, man kann sich dem nicht mehr entziehen! (lacht) Vor allem, nachdem ich nun gerade mit James Franco, dem König der Selfies, gearbeitet habe. James hat sich ja vor kurzem Montgomery Clift und Elizabeth Taylor auf den Hinterkopf tätowieren lassen, davon ein paar Selfies gemacht und ins Internet gestellt. Das war kurzfristig eine wunderbare Werbeplattform: er musste sich nur die Haare wachsen lassen und schon war sie wieder weg. Aber ich denke, mein Hinterkopf bleibt werbefrei.

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