Herr Sorokin, in Ihrem Buch „Der Tag des Opritschniks“ hat Russland sich im Jahr 2027 mit einer „Großen Mauer“ vom Westen abgeschottet. Sie sind dann 72 Jahre alt, auf welcher Seite der Mauer würden Sie leben?
Sorokin: Auf der westlichen Seite, schließlich würde ich nicht in einem Russland leben wollen, wo die Intelligenzia öffentlich abgeschlachtet wird. Es denken im Moment ja sehr viele Russen daran, auszuwandern, auch viele junge Menschen. Die Leute haben einfach Angst um ihre Zukunft und sie fangen an zu phantasieren. Sie träumen davon, im Westen Immobilien zu kaufen – um jeden Moment fortgehen zu können. Doch was mich anbelangt: Ich bin ein russischer Schriftsteller, ich fühle mich der russischen Sprache sehr verbunden, der russischen Mentalität – freiwillig werde ich nicht gehen.
In Ihrer düsteren Zukunftsvision verbrennen die Russen ihre Reisepässe. Aus Patriotismus oder aus Gehorsam?
Sorokin: Ich denke, man hat sie dringlichst darum gebeten. (lacht) Aber ich habe auch Folgendes erlebt: Als ich das Buch geschrieben habe traf ich in Berlin eine junge russische Komponistin. Und als ich ihr die Geschichte erzählte, Russland durch eine Mauer abgeschottet von der restlichen Welt usw., da meinte sie: „Wenn das geschieht werde ich gleich morgen mein Ticket nach Russland buchen.“ Es gibt viele Leute, die so etwas wirklich wollen. Weil sie erschöpft sind von der modernen Welt, sie haben irgendwelche nostalgischen Träume, Erinnerungen an vergangene Zeiten und den Wunsch, in die eigene Kindheit oder Jugend zurückzukehren.
Die „Opritschniki“ waren die Leibgarde „Iwan des Schrecklichen“, der nicht nur grausam brutal war, sondern auch paranoid. Was denken Sie über die Psyche Putins? Ist er ebenso Paranoiker?
Sorokin: Ich bin kein Psychiater, ich kenne Putin nicht persönlich und brenne auch nicht darauf, ihn näher kennen zu lernen. Putin sieht jedenfalls nicht gerade glücklich aus. Wenn man ihn zum Beispiel mit Jelzin vergleicht, der sah, in jeder beliebigen Situation glücklich aus, obwohl er viele schwierigere Situationen erlebte, in denen er die Macht zu verlieren drohte.
Doch wenn man sich Putin und Medwedew anschaut, ihr Gesichtsausdruck ist ein unruhiger, sie lächeln sehr selten. Putin nimmt die Regierungsarbeit nicht mit Euphorie wahr, sondern für ihn ist das eher eine unangenehme Aufgabe. Und wahrscheinlich weiß er, dass seine Politik tiefgründig falsch ist.
Hat Putin Ihrer Meinung nach eine Strategie?
Sorokin: Ich denke, es gibt nur eine einzige Strategie: dass die eigene Clique – also vor allem seine Gefährten aus Leningrad – an der Macht bleibt. Es geht darum, dass das Land von den Silowiki regiert wird, das ist so eine alte KGB-Denkweise.
Bei uns ist der Machtapparat heute absolut undurchsichtig geworden, zynisch und unberechenbar, nichts wird erklärt. Die Regierung fällt einfach nur Entscheidungen, Punkt. Das Volk ist denen egal.
Sie beschreiben die Opritschniki als Kriminelle, die unliebsamen Politikern und Firmenchefs ihr Hab und Gut wegnehmen. Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit der Staatsmacht?
Sorokin: Es gab 2002 ein Gerichtsverfahren gegen mich – aber das ist eigentlich schon alles. Was ich aber im Buch beschreibe, das passiert auch in Wirklichkeit: Es gibt die sogenannten „Raider“, kleine Truppen, die sich mit feindlichen Übernahmen beschäftigen. Die nehmen den Leuten buchstäblich ihr Geschäft weg. Es gibt einen gefälschten Durchsuchungsbefehl, sie dringen in die Büros ein und verscheuchen die Angestellten. Oder es kommt einer im grauen Anzug zum Direktor und sagt: „Jemand ist der Meinung, dass sie ihr Geschäft lieber verkaufen. Wir sagen Ihnen auch, an wen. Falls Sie nicht verkaufen wollen, bekommen sie große Probleme mit Ihren Steuern aus dem Jahr 1997.“
Und die Drahtzieher sitzen im Kreml?
Sorokin: Ich denke, die Regierung erhält ihren Anteil. Das ist ja eine gewöhnliche Diktatur, die die Gerichte und die Polizei in ihrer Hand hat. Die können machen, was sie wollen. Und warum wollen so viele Leute auswandern? Weil sie Angst um ihr Geschäft haben. Es geht gar nicht mal um die Meinungsfreiheit, sondern sie befürchten, dass ihnen morgen alles weggenommen wird.
Aber es gibt auch genügend Russen, die Putins Kurs unterstützen.
Sorokin: Richtig, es gibt Leute, die denken, Putin hat im Land eine Stabilität erreicht. Aber für mich ist das eher ein Verdienst des Mittelstands. Die Leute arbeiten dafür, sie schaffen die Arbeitsplätze.
Andererseits: Wie kann man von Stabilität sprechen, wenn die Menschen in den russischen Provinzen eine Rente um die 150 Dollar bekommen? Moskau dagegen badet nur so im Luxus. Neulich wollte ich mir ein neues Sofa kaufen, aber dann habe ich mit Schrecken festgestellt, dass man ein anständiges Sofa bei uns in Moskau erst ab 10.000 Dollar bekommt. Das ist eine absolut krankhafte Situation.
Gute Autoren waren schon immer gefährlich für die Regierung.
Welche Rolle spielen Sie als Autor in Russland, in welcher Funktion sehen Sie sich?
Sorokin: Ich sehe mich auf keine Art und Weise, schließlich habe ich kein drittes Auge. Meine Funktion liegt nur darin, mich zu bemühen, gut zu schreiben und meine eigenen Ansichten und Überzeugungen nicht zu verbergen. Diese zwei Sachen Aber welche Rolle – das weiß ich nicht.
Nun rufen Ihre Ansichten sehr unterschiedliche Reaktionen hervor: Die einen lesen ihren „Opritschnik“ als Kritik an den heutigen Zuständen, andere sehen es als Ansporn, genau so ein zaristisches, isoliertes Russland zu schaffen. Was sagen Sie dazu?
Sorokin: Mir ist das egal. Ich habe ein Buch geschrieben – sollen die Leute es doch auf unterschiedliche Weise lesen, die Patrioten auf ihre Weise, die Liberalen auf ihre. Ich wollte nur die Gesellschaft beschreiben, in der wir leben. Und dafür, dass es bei mir so eine satirische Form angenommen hat, gibt es einen Grund: Ich glaube, wenn man das heutige Russland mit einer ganz realistischen Sprache beschreiben würde, dann wäre das die falsche. Wir leben in einem Land der Groteske. Und dem muss die Sprache angemessenen sein.
In Russland werden Sie oft als „Skandal“-Autor betitelt, u.a. aufgrund sehr freizügiger sexueller Darstellungen in Ihren Büchern. Hierzulande hat man Sie in einer Kritik jüngst als „Hofnarr“ Russlands bezeichnet. Beleidigt Sie so etwas?
Sorokin: Ich frage mich erst mal, welchen Hof der Kritiker da gemeint hat. Aber dann muss man auch sagen: die Spaßmacherei der Hofnarren hatte ja meist einen tieferen Sinn und Kern. Die Narren haben den Zaren oft die Wahrheit gesagt – und sie haben auf die Narren gehört.
Der Unternehmer Boris Beresowski, der im Londoner Exil lebt, hat in einem Brief an Putin Ihr Buch empfohlen. Wissen Sie denn, ob man es im Kreml gelesen hat?
Sorokin: Ja, das weiß ich. Ein Bekannter von mir, der mit der Kreml-Administration zu tun hat, hat extra zehn Exemplare gekauft, dort hingebracht und verteilt. So weit ich weiß war die Reaktion: „Ein amüsantes Büchlein“.
Im März bekommt Russland einen neuen Präsidenten. Wird Ihnen Putin fehlen, als Objekt der Kritik und Satire?
Sorokin: Putin bleibt doch praktisch an der Macht, er heißt dann nur Premier-Minister. Insofern sollten wir da jetzt nicht zu voreilig sein.
Aber ich denke sowieso, dass bei uns die Regierung noch lange ein Objekt der Satire bleiben wird. Ich glaube auch nicht, dass sie abtreten und den Demokraten das Feld überlassen wird.
Und sind Schriftsteller für die Regierung gefährlich?
Sorokin: In Russland ja, 100 Prozent. Gute Autoren waren schon immer gefährlich für die Regierung. Wir erinnern uns an Radischtschew, Puschkin, Lermontow, Dostojewski, den sie erschießen wollten, Tolstoi ,den sie aus der Kirche geworfen haben, im 20. Jahrhundert war es sowieso eine einzige Vernichtung… Und mich haben sie ja auch schon vors Gericht geholt. Die Regierung mag uns nicht, weil wir über sie die Wahrheit sagen. Dabei will die Regierung verschlossen sein, wie so ein Gott da oben, dem alle zuhören und gehorchen.
Eine Schlussfrage: Wenn das Leben ein Theaterstück ist – welche Rolle spielen Sie?
Sorokin: Vielleicht … (überlegt)… Ich denke, ich bin der Pyrotechniker. Der zur Stelle ist, wenn auf der Bühne mal Nebel oder Feuer gemacht werden muss.
Ehrliche Kritik
ich bin sehr froh das es Menschen wie Wladimir Sorokin gibt, die den Mut haben Kritik zu äußern wenn es angebracht ist. Unsere Welt wird immer besser da es immer mehr Aufklärung gibt, dem Internet sei dank.