Herr Neskovic, wie sehen Sie den aktuellen Bundestagswahlkampf im Vergleich zu dem vor vier Jahren?
Neskovic: Im Gegensatz zu den zwei Wahlkämpfen, die ich für die Linke mitgemacht habe, muss ich jetzt alles selbst organisieren. Das ist neu für mich. Aber die Aufmerksamkeit der Menschen ist ganz anders. Wenn man ihnen einen Flyer reichen will, sagen sie oft „Mit Parteien will ich nichts zu tun haben“. Wenn ich dann antworte „Ich auch nicht“, ist da ein Überraschungsmoment. In einer solchen Situation ist auch immer ein Gespräch möglich. Ich kann nur sagen, ich bin noch nie so freundlich und auch so intensiv in Gespräche hineingekommen, wie in diesem Wahlkampf.
Warum wollen die Menschen nichts mit Parteien zu tun haben?
Neskovic: Die Politikverdrossenheit ist riesig. Die Menschen sagen, „Es ist doch alles die gleiche Soße, ob ich den oder den wähle, es ändert sich so und so nichts“. Der Glaube, dass Politik Dinge verändern kann, ist vielen Menschen abhanden gekommen.
Und Ihre ablehnende Haltung den Parteien gegenüber, woher kommt die?
Neskovic: Ich glaube, die Parteien haben ihre Berechtigung. Allerdings sollen sie nach dem Grundgesetz bei der politischen Willensbildung lediglich mitwirken. Sie sollen also nur Teil der Willensbildung sein. Aber sie haben sich diese Willensbildung vollständig unter den Nagel gerissen. Da muss ein Gegengewicht geschaffen werden: Unabhängige Abgeordnete, die allein den Wählerinnen und Wählern und dem Gemeinwohl verpflichtet sind, ohne auf die Machtstrukturen eines Parteiapparats Rücksicht nehmen zu müssen.
Ein wesentliches Element der Politik ist die Täuschung. Das Streben nach Macht wird mit dem verführerischen Begriff der Verantwortung ummantelt. Aber in Wirklichkeit geht es nur darum, an die Macht zu kommen. Ist man dann an der Macht, spielen die Versprechen, die ursprünglich gemacht worden sind, keine Rolle mehr.
Sie waren Mitglied der SPD, der Grünen und der Bundestagsfraktion der Linken – fehlen noch die Piraten könnte man meinen.
Man könnte daraus auch schlussfolgern, dass ich etwas orientierungslos bin. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich habe immer bestimmte inhaltliche Werte gehabt, die für mich wichtig waren, die jedoch von den jeweiligen Parteien verraten worden sind. In Wirklichkeit sind es die Parteien, die sich gegenüber ihren Werten als orientierungslos und opportunistisch erwiesen haben.
Was konkret hat Sie denn bewogen, die genannten Parteien zu verlassen?
Neskovic: Die SPD hat bereits Anfang der 90er Jahre die Bereitschaft gezeigt, im Ausland deutsche Soldaten einzusetzen. Sie hat das Asylrecht ruiniert („Asylkompromiss“ von 1992, Anm. der Redaktion) und sie hat sich Anfang der 90er im Bereich der inneren Sicherheit für den „Großen Lauschangriff“ eingesetzt. Das waren für mich rote Linien, die überschritten wurden. Deshalb habe ich die SPD verlassen.
Bei den Grünen war es die Friedenspolitik. Der Krieg gegen Ex-Jugoslawien war völkerrechtswidrig. Das ist nur geschehen, um an der Macht zu bleiben. Da habe ich mir geschworen, ich trete nie wieder in eine Partei ein. Daran habe ich mich auch gehalten. Für die Linke habe ich zwar kandidiert, aber ich bin nicht in die Partei eingetreten. Diese Bedingung haben sie akzeptiert.
Kann man sich als Richter überhaupt in eine Partei einfügen?
Neskovic: Der Umstand, dass ich fast 30 Jahre lang Richter gewesen bin, hat mein politisches Denken und Handeln geprägt. Ich bin eigentlich kein Politiker, sondern ein Richter, der nach den Maßstäben seines Berufes Politik macht. Deswegen passt auch eine Kandidatur als Unabhängiger am Besten zu mir. Ich bin als Richter ein gelernter Unabhängiger. Das wesentliche an der richterlichen Tätigkeit besteht in der Unabhängigkeit. Für mich zählt die Hierarchie der Argumente und nicht die Hierarchie der Personen. Wenn ein Argument gut ist, überzeugt es mich. Ich ordne mich nicht einer falschen Meinung unter, nur weil eine bestimmte Person sie äußert.
Da ist es auch verständlich, dass Sie immer wieder den Fraktionszwang kritisieren, dem sich die meisten Abgeordneten im Bundestag unterwerfen.
Neskovic: Der Fraktionszwang steht nirgendwo im Grundgesetz. Er ist eine freie Erfindung politischer Opportunität. Laut Grundgesetz ist der Abgeordnete frei von Aufträgen und Weisungen und nur seinem Gewissen unterworfen. In der Praxis ist es jedoch so, dass derjenige, der sich außerhalb des Fraktionszwangs bewegt und mehrfach nicht bereit ist, im Sinne der Fraktion zu stimmen, keine Chance hat, wieder aufgestellt zu werden.
Wir haben allerdings einige Gesetze im Bundestag verabschiedet, die nicht vom Fraktionszwang geprägt waren.
Zum Beispiel?
Neskovic: Das waren Gesetze, die ethische Fragen betrafen, wie z. B. PID, Patientenverfügung, das Transplantationsgesetz oder das Gesetz zur Beschneidung. Da waren alle, auch die Journalisten, begeistert, dass dieses Parlament Qualität, intellektuelle Kraft und Leidenschaft gezeigt hat. Da hat das Parlament demonstriert, was sich die Bürger wünschen und erwarten. Diese Kultur der parlamentarischen Meinungsbildung müssen wir wieder anstreben. Denn ansonsten ist das Parlament domestiziert und eingesperrt durch den Fraktionszwang. Der muss vor allem in den Köpfen abgeschafft werden, rechtlich gibt es ihn ohnehin nicht. Er existiert nur, weil Abgeordnete denken „Ich werde sonst nicht wieder aufgestellt“. Der Fraktionszwang verzwergt die Abgeordneten.
Warum kandidieren Sie jetzt ausgerechnet im östlichen Brandenburg/Sachsen, einem strukturschwachen und von Abwanderung betroffenen Gebiet?
Neskovic: Ich konnte die Menschen in der Region über sieben Jahre kennenlernen und fühle mich hier wohl. Ich bin von den Menschen akzeptiert, erhalte viel Zuspruch. Für mich stand fest: Wenn ich nochmal kandidiere, dann nur hier. Auch wenn es eine unabhängige Kandidatur ist, mache ich das nicht in Lübeck, wo ich es einfacher hätte, weil ich dort fast mein ganzes Leben gelebt habe und die Wertschätzung vieler Menschen erfahren habe. Ich mache es in der Lausitz, weil ich glaube, dass zum Beispiel die Abbaggerung von Dörfern eine schwere Sünde ist. Die Menschen verdienen Schutz. Ich möchte vor allem auf der juristischen Ebene Schutz bieten und die Menschen ermutigen. Ich merke immer wieder den Rückhalt, den ich in dieser Region habe. Da sagt der CDU-Bürgermeister, dass er mich braucht, weil die Menschen politisch nicht ernst genommen werden. Ich möchte den Menschen bei ihrem Kampf einfach helfen.
Sie haben in Ihrem Wahlkreis auch einen Wahlkampftermin mit dem
Linken-Vorsitzenden Klaus Ernst absolviert. Warum dieser Termin mit dem Chef der Fraktion, aus der Sie ausgetreten sind?
Neskovic: Ich bin nur aus der Linken ausgetreten, weil die Linken in Brandenburg ihre Wahlversprechen gebrochen haben. Aber es ist so, dass viele aus meiner alten Fraktion mich auch in Brandenburg unterstützen. Meine politische Auffassung ist nach wie vor links. Ich bin ein unabhängiger Linker, aber immer noch ein Linker.
Ich sitze mit verschiedenen Politikern auf dem Podium bei Diskussionsveranstaltungen. Mit Spitzenpolitikern von der Linken, aber auch mit CDU-Leuten oder Piraten. Außerdem komme ich auch mit Fachleuten vom BUND, Attac oder der ehemaligen Chefin des Verfassungsschutzes in Brandenburg zusammen. Ich schaue grundsätzlich nicht auf die Herkunft der Leute oder deren Partei. Ausgenommen davon ist die extreme Rechte.
Die Politikverdrossenheit ist riesig. Der Glaube, dass Politik Dinge verändern kann, ist vielen Menschen abhanden gekommen.
Man hat den Eindruck, dass es Politikern schwerfällt, sich zurückzunehmen und in erster Linie die Wähler zu repräsentieren und die Wahlversprechen einzulösen. Warum ist das so?
Neskovic: Bei der Politik geht es um Macht, Einfluss und Geld. Ich würde sagen, mehr als 90 % der Abgeordneten verdienen durch das Mandat deutlich mehr, als sie vorher verdient haben. Wenn man dann „ungehorsam“ ist, verliert man nicht nur Einfluss, sondern auch Geld. Für manche kann das sogar eine Existenzfrage sein. Deshalb ist es so wichtig, dass man unabhängige Abgeordnete hat. Menschen, die sozial, mental und finanziell unabhängig sind und die nicht nur aufgrund der Vergünstigungen in den Bundestag kommen, um anschließend ihre Wahlversprechen zu vergessen.
Sie haben als fraktionsloser Abgeordneter ein ausgiebiges Rederecht…
Neskovic: Ja, ich darf mich zu allen Punkten äußern. Ich kann also Meinungen vertreten und ins Parlament einbringen, die mir unmittelbar von den Bürgern mitgeteilt wurden. Ich kann Änderungsanträge zu Gesetzen erarbeiten. Ich bin auch beratendes Mitglied in einem Ausschuss und anderen parlamentarischen Gremien. So bin ich zum Beispiel Vorsitzender des Wahlausschusses für die Bundesverfassungsrichter. Schließlich bin ich frei von Fraktionszwängen. Das ist ein riesiger Vorteil.
Es gibt andere Bereiche, bei denen sich noch etwas ändern sollte. Zum Beispiel benötige ich mehr Personal als die anderen Abgeordneten, denn die profitieren vom Personal der Fraktionen. Die Geschäftsordnung des Bundestags ist auf Fraktionen ausgerichtet, der fraktionslose Abgeordnete kommt nur ausnahmsweise vor. Das Bewusstsein dafür ist bei den Verfassungsrichtern aber deutlich gewachsen. Insofern bin ich optimistisch, dass man die Rechtsstellung des fraktionslosen Abgeordneten verbessern kann. Sollte ich wieder in den Bundestag kommen, werde ich notfalls das Bundesverfassungsgericht anrufen.
Welches Verhältnis von fraktionslosen und fraktionsgebundenen Abgeordneten halten Sie für sinnvoll?
Neskovic: Ein Verhältnis, bei dem die Hälfte der Kandidaten Unabhängige und die andere Hälfte Parteimitglieder sind. Aber vielleicht ist das eine Utopie.
Was würde sich dann konkret am Bundestagsgeschehen verändern?
Neskovic: Wir hätten ganz andere Debatten, eine ganz andere parlamentarische Kultur. Unabhängige sind von keiner Partei abhängig. Sie werden nicht von Parteigremien domestiziert. Die Drohung, nicht mehr aufgestellt zu werden, wäre nicht mehr da. Und das Verhältnis zwischen Bürger und Abgeordneten wäre ein anderes. Wenn heute ein Kandidat von einer Partei aufgestellt wird, habe ich als Wähler keine Chance, eine falsche Personalentscheidung zu korrigieren. Da kann ich nur zähneknirschend die Partei wählen und muss hinnehmen, dass derjenige wieder ins Parlament reinkommt. Ein unabhängiger Kandidat dagegen kann gewählt oder eben nicht gewählt werden. Er ist ein wirklicher Volksvertreter.
Gregor Gysi sagte in einem Interview, dass er im Bundestag nicht zu den Abgeordneten spreche, sondern nur für die Kameras und Fernsehzuschauer. Er könne Mitglieder der CDU ja sowieso nicht von seiner Meinung überzeugen. Stimmen Sie dem zu?
Neskovic: Das ist ein Zeichen von Resignation. Ich persönlich habe durchaus die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, über Sachargumente an die Kollegen heranzukommen. Allerdings weniger über die offene Bühne des Plenums, sondern eher in den Ausschüssen und den Gesprächen mit den anderen Berichterstattern. Das stimmt mich auch optimistisch, dass ein sogenannter Einzelkämpfer etwas erreichen kann. Es ist nachweisbar, dass ich jetzt ohne Fraktion viel stärker wahrgenommen werde als vorher. Die Nachfragen zu Gesprächen und Interviews sind sowohl im Wahlkreis als auch bei der Presse größer geworden. Ich werde außerdem von ganz unterschiedlichen Kollegen aus anderen Fraktionen angesprochen.
Von 2005 bis 2012 waren Sie Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr). Mehrfach haben Sie Kritik an dessen Arbeit geäußert.
Neskovic: Ich sehe gerade bei der Geheimdienstkontrolle, wie viele meiner Forderungen nunmehr von der SPD, den Grünen und den Linken aufgegriffen werden. Selbst die Kanzlerin sagt jetzt, wir müssen die Geheimdienste besser kontrollieren. Ich habe dazu schon vor vielen Jahren Vorschläge gemacht, die jetzt auf einmal öffentlich diskutiert werden.
Außerdem bin ich der Meinung, dass wir im Parlamentarischen Kontrollgremium deutlich mehr Sachkundige brauchen. Wir brauchen Abgeordnete, die sehr viel mehr Zeit für ihre Arbeit aufbringen. Das ist im Moment nicht der Fall, da die Fraktionsgeschäftsführer aus reinen Prestigegründen dem Gremium angehören. Die Hälfte des Gremiums sollte sich aus Abgeordneten zusammensetzen, die an dem Thema Interesse haben und Zeit mitbringen. Die andere Hälfte sollten Richter und Richterinnen, also Nicht-Abgeordnete sein.
Finden Sie, dass das Parlamentarische Kontrollgremium seiner Aufgabe in Zeiten der NSA-Affäre gerecht wird?
Neskovic: Das Gremium hat Erklärungen der Regierung entgegengenommen, ohne den Wahrheitsgehalt zu prüfen. Die Mitglieder können verschiedene Dateien einsehen, sie können sich Akten vorlegen lassen, Mitarbeiter vernehmen. Sie können Sachverständige hinzuziehen, die mögliche technische Fragen klären. Nichts von dem ist geschehen. Das Gremium hat also seine Hausaufgaben nicht gemacht. Allerdings gibt es hierbei ein Problem. Nach dem Gesetz setzten alle Kontrollbefugnisse eine Mehrheitsentscheidung des Gremiums voraus. Für das Einsetzen eines Sachverständigen braucht man sogar eine Zweidrittelmehrheit. Natürlich haben die Regierungsfraktionen kein Interesse, Dinge aufzuklären, die die eigene Regierung beschädigen könnten. Das muss geändert werden. Es müssen Minderheitenrechte für die Wahrnehmung der Kontrollbefugnisse gelten.
Außerdem brauchen wir mehr Personal. Jedes Mitglied des PKGR sollte fünf Mitarbeiter haben: Zwei IT-Experten und drei Juristen.
Zusätzliche IT-Mitarbeiter für alle Abgeordnete, das wäre doch keine schlechte Idee, damit in Zukunft nicht mehr vom Internet als „Neuland“ gesprochen wird…
Neskovic: Jeder Abgeordnete, der einigermaßen klug ist, hat unter seinen Mitarbeitern wenigstens einen, der sich mit dem Internet auskennt. Auch ich habe selbstverständlich einen Mitarbeiter, der in diesem Bereich ausgesprochen fit ist.
Viele nennen die Straflosigkeit bei Besitz geringer Mengen Cannabis Ihre wichtigste politische Errungenschaft. Sehen Sie das auch so?
Neskovic: Ich glaube, als Richter habe ich insgesamt bedeutsamere Entscheidungen getroffen, zum Beispiel im Bereich Sozialstaat. Diese Entscheidungen waren vielleicht nicht so spektakulär, aber viel bedeutsamer.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie noch nie weder Zigaretten noch einen Joint geraucht hätten. Wie geht das mit Ihrem Einsatz für Nicht-Strafbarkeit beim Besitz geringer Mengen Cannabis zusammen?
Neskovic: Das war ja keine Entscheidung, die aus persönlicher Betroffenheit rührte, sondern für mich war das eine Verletzung meines Gerechtigkeitsgefühls. Ich finde es nicht gerecht, dass Alkohol, die Droge die deutlich schwerere Nebenwirkungen als Cannabis hat, legal ist, der Besitz von Cannabis aber strafrechtlich verfolgt wird. Das war damals eine gemeinsame Entscheidung in der Strafkammer, die sich auf die überzeugenden Ausführungen von Sachverständigen gründete. Das Bundesverfassungsgericht ist uns ja im Kern gefolgt.
Die Wähler sind in vergangenen Jahrzehnten toleranter geworden, was den Lebensstil von Politikern anbelangt. Homosexualität muss niemand mehr verheimlichen, auch Affären und uneheliche Kinder schaden dem Image eines Politikers nicht mehr. Was würde nun passieren, wenn ein amtierender Politiker öffentlich zugibt, dass er gelegentlich zum Joint greift?
Neskovic: Ich habe Zweifel, ob er auf Toleranz hoffen könnte. Ich denke, es würde ihm mit Sicherheit schaden.