Yermen Yerzhanov, haben Sie an den Demonstrationen teilgenommen?
Am 3. und 4. Januar war ich im Zentrum von meiner Heimatstadt Aqtöbe, das war vor den Ereignissen in Almaty. Am ersten Tag waren etwa 3.000 Demonstranten anwesend. Ich bin nur aus Neugierde hingegangen, ich wollte sehen, wie dieser Protest ablaufen würde und meine Unterstützung zeigen. Trotz der Gerüchte, die im Internet kursierten, waren die Demonstrationen keineswegs geplant. Sie sind spontan entstanden. Es gab keine Anführer, keine Technik, jeder hat einfach etwas gemacht. Die Menschen protestierten, weil sie die Situation im Lande satt hatten, in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen. Die Menschen verhielten sich friedlich, sie sangen die kasachische Nationalhymne und die Slogans waren recht unschuldig: ‚Kasachstan voran‘ und ‚weg mit Opa‘, in Bezug auf Nursultan Nasarbajew.
Am 4. Januar hatten sich noch mehr Demonstranten versammelt. Sie forderten einen Dialog mit dem Gouverneur, der aber natürlich nicht erschienen ist. Es war dann wohl ein Provokateur, der versuchte, mit seinem Auto in die Menschenmenge zu fahren. Es waren etwa 600 bis 700 Polizisten der Spezialeinheit OMON, die anscheinend auf diesen Moment gewartet hatten. Sie begannen, die Demonstration professionell aufzulösen. Es wurden Blendgranaten, Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt. Seltsamerweise hörten die Polizisten nach einer Stunde auf und verließen den Platz. Als ob sie einen Befehl von oben erhalten hätten. Einige Leute liefen ihnen nach, um sie zu umarmen. Diese Leute dachten, die Polizei hätte sich auf die Seite des Volkes gestellt, aber ich denke, die Situation war anders. Mit den Informationen, die ich jetzt habe, würde ich sagen, dass es darum ging, die Menschen zum Plündern zu bewegen. Dies hätte insbesondere von der Familie Nasarbajew genutzt werden können, um mit voller Härte zu reagieren und so die Macht wieder an sich zu reißen. In Aqtöbe ist dies jedoch nicht gelungen, Freiwillige haben Geschäfte und strategische Gebäude bewacht, damit es nicht zu Plünderungen kommt. Aus diesem Grund bin ich sehr stolz auf meine Mitbürger.
Gab es neben den gestiegenen Preisen noch andere Gründe für die Unzufriedenheit?
Die wirtschaftliche Lage war der Hauptgrund. Sie war eine Reaktion auf die Proteste, die am 2. Januar in Aqtua spontan entstanden waren. Wir in Westkasachstan haben uns solidarisch gezeigt. Natürlich haben wir auch genug von der Pandemie, in den letzten sechs Monaten sind die Preise für Grundnahrungsmittel enorm gestiegen. Auch die Mittelschicht hat es mittlerweile nicht mehr leicht. Und sehr wichtig war auch, dass wir die Nase gestrichen voll hatten von Nasarbajew und seiner Familie. Bei der Demonstration waren Unternehmer und Arbeitnehmer aus der Ölindustrie dabei, denen es relativ gut geht. Es gab ein breites Spektrum von allen möglichen Leuten, es waren nicht nur die Ärmsten, die protestierten. Jeder hat verstanden, dass sich nichts ändern wird, solange Nasarbajew und seine Familie das Land regieren.
Sie haben die Pandemie angesprochen – gibt es bei Ihnen strenge Maßnahmen?
Es geht. Unser Land ist in grüne und rote Zonen eingeteilt. Sobald das Gebiet, in dem man lebt, zu einer roten Zone wird, hat das enorme Auswirkungen. Dann ist alles geschlossen, nicht geimpfte Menschen dürfen keine Einkaufszentren betreten. Wir haben keine starke Impfgegnerbewegung, aber es gibt hier auch Menschen, die sich nicht impfen lassen. Natürlich gehen die Maßnahmen den Leuten auf die Nerven.
Darf man jetzt wieder nach draußen?
Ja, wir dürfen wieder raus. Es gibt bloß eine Ausgangssperre von 23 Uhr bis 7 Uhr morgens, aber im Prinzip funktioniert alles wieder.
Ist Ihnen etwas über die Zahl der zivilen Opfer bekannt?
Nein, wir hatten in Aqtöbe nur ein paar Verletzte. Eine Person wurde durch eine Blendgranate am Bein getroffen. Und ein Polizist wurde verletzt. In den meisten Regionen verlief alles friedlich, die Menschen haben ein großes Verantwortungsbewusstsein gezeigt, es gab hier keine Plünderungen. Die Lage war nur im Süden ernst, insbesondere am 5. Januar in Almaty. Auch dort begann alles friedlich, aber in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar gelang es jemandem, die Jugendlichen aus den sozialen Brennpunkten zu mobilisieren. Dort leben die viele Menschen in Armut, die aus dem Umland in die Stadt gekommen sind, auch viele Gastarbeiter. Unter ihnen sind viele radikale Muslime, Salafisten. Etwa 10 000 bis 15 000 Menschen erschienen plötzlich im Zentrum von Almaty, um alles zu zerstören und zu plündern.
Tokajew sprach von 20 000 ausländischen Kämpfern….
Über welche Grenze sollen die denn alle gekommen sein? Die russische, die chinesische? In Almaty gibt es eine ausreichende Zahl von Kriminellen und radikalen Muslimen, ungebildete Jugendliche, die die für salafistische Ideen offen sind, dieses Problem besteht hier schon seit langem. In den Jahren 2011 und 2016 kam es in Aqtöbe zu terroristischen Anschlägen durch extremistische Muslime. Das Problem ist, dass diese Salafisten von einem Verwandten von Nasarbajew angeführt werden.
Immerhin ist die Regierung zunächst auf die Forderungen der Demonstranten eingegangen, die Preise wurden gesenkt, die Preise für LPG-Gas waren sogar noch niedriger als zuvor. Außerdem wurden die Preise für drei Monate eingefroren. Während der Unruhen in Almaty war von Forderungen aber überhaupt keine Rede mehr. Dort ging es darum, so viel wie möglich zu zerstören und zu plündern. Um zu zeigen, dass die Staatsmacht nicht mehr die Kontrolle hat. Außerdem verließen Polizisten und Beamte wie auf Kommando ihren Einsatzort. Der Leiter des Geheimdienstes wurde schließlich unter dem Verdacht des Hochverrats verhaftet.
Und der hat im Auftrag von Nasarbajew versucht, die Proteste zu radikalisieren, um einen Putsch zu ermöglichen?
Nasarbajew selbst ist sehr alt, es war eher seine Familie, die die Macht ergreifen wollte. Wir haben den Alten zuletzt am 27. Dezember im Fernsehen gesehen, als er in St. Petersburg war. Er ist sehr krank, Lukaschenko musste ihn beim Gehen stützen. Es geht vielmehr um seine Töchter und Schwiegersöhne, denen in Kasachstan alles gehört. Tokajew sagte heute, dass ihr gesamtes Vermögen, Banken und Unternehmen, dem Staat übergeben wird.
Sind diese Familienmitglieder inzwischen tatsächlich nach Dubai ausgereist?
Es gibt eine Menge widersprüchlicher Informationen, aber es scheint ziemlich sicher zu sein, dass sie nicht mehr an der Macht sind. Die Ära Nasarbajew ist offenbar vorbei. Das ist natürlich ein großer Erfolg. Tokajew hat in kurzer Zeit eine große Zahl von Reformen durchgeführt. Wie er tatsächlich drauf ist, wird die Zukunft zeigen. Wir sind diese Familie los. Das ist an sich schon eine große Reform.
Im Jahr 2015 haben Sie gesungen: „Die Esel werden durch Arschlöcher ersetzt“. Haben Sie nicht die Befürchtung, dass dies auch auf die derzeitige Situation zutreffen könnte?
Ich hoffe nicht. Tokajew hat uns von dieser Familie erlöst, das ist schon etwas Besonderes. Mit Nasarbajew gab es keine Chance auf Veränderung. Jetzt gibt es eine neue Perspektive. Was daraus wird, bleibt natürlich abzuwarten. Es hängt davon ab, wie ehrlich Tokajew ist. Viele von uns hoffen, dass er der Reformer sein wird, auf den wir warten.
Was können Sie über die Einmischung des russischen, weißrussischen, tadschikischen und kirgisischen Militärs sagen?
Wenn tatsächlich, wie versprochen, am 13. Januar die ausländischen Truppen abziehen, ist das ein gutes Zeichen. Sie halfen Tokajew während der Unruhen, an der Macht zu bleiben.
Haben Sie diese Soldaten in Ihrer Stadt gesehen?
Nein, sie befinden sich alle in Nur-Sultan und Almaty. Keiner meiner Freunde in Almaty hat sie dort auf der Straße gesehen; zu sehen sind nur unsere eigenen Ordnungshüter. Anscheinend bewachen die ausländischen Soldaten strategische Gebäude und Flughäfen.
Sie vertreten mit Ihrer Musik eine klar antiautoritäre Haltung. Hatten Sie deswegen jemals Schwierigkeiten mit staatlichen Behörden?
In Kasachstan wurden unsere Konzerte in den frühen 1990er Jahren verboten. Ich glaube aber nicht, dass es damals wirklich politisch motiviert war. Wahrscheinlich hatten die sich meine Texte nicht einmal angehört. Es war vielmehr eine Tradition aus der Sowjetzeit, nach dem Motto: ‚Ihr seid anders, das mögen wir nicht.‘ In den 2000er Jahren ging es der Wirtschaft plötzlich viel besser, da hatten der Geheimdienst und die Polizei Besseres zu tun, als sich mit uns zu beschäftigen, Öl, große Unternehmen, große Interessen… In Belarus, wo die Repressionen bereits im Jahr 2000 spürbar waren, sieht die Sache anders aus. Als wir dort auf Tournee waren, wurde uns sofort gesagt, dass es eine strenge Zensur gibt. Polizisten in Zivil waren bei den Konzerten anwesend und hielten ein wachsames Auge auf die Band und das Publikum. Und mittlerweile haben wir die gleiche Situation in Russland. Bisher wurde jedoch niemand während der Auftritte verhaftet. Es war auch nicht ganz klar, ob sie wegen uns, der Organisatoren oder der Zuschauer kamen.
Im Jahr 2019 haben Sie die CD „Orwell“ mit dem Song „1984“ aufgenommen. Ein pessimistischer Blick in die Zukunft, der sich gerade erfüllt?
Leider ja. Ich hatte den Song 1984 bereits 2016 geschrieben. Ich höre auch von vielen Menschen auf der ganzen Welt, dass Themen, die wir besingen, wie Polizeistaat, Unterdrückung und Diktatur, immer mehr zur Realität geworden sind.
Der UN-Folterbeauftragte Nils Melzer zeigte sich vor kurzem sehr besorgt über das gewaltsame Vorgehen der Polizei bei einer Demonstration gegen die Corona-Regeln in Amsterdam. Die niederländische Polizei sagte daraufhin, die UN solle sich erst mal in Kasachstan und Belarus umsehen. Also wird das Vorgehen der Polizei in Ihrem Land als Maßstab für das bei uns genommen…
Ich habe das Video über den Demonstranten gesehen, der von Polizeibeamten verprügelt und von einem Polizeihund gebissen wurde. Im Zusammenhang mit der Pandemie hat sich die Rhetorik der Regierungen in der Tat stark verändert, sogar bei euch, wo die Menschenrechte einst einen hohen Stellenwert hatten. Die Politiker erlauben sich Dinge, an die sie früher nicht einmal zu denken gewagt hätten. Aber ich muss hinzufügen, dass ich kein Fan von Verschwörungstheorien bin. Ich glaube nicht, dass die Pandemie dazu führen wird, dass man uns alle in ein Lager einsperrt und die Welt zu einer Diktatur wird. Es gibt noch viele Menschen, die für ihre Rechte kämpfen. Ich finde es immer wieder schön zu sehen, wie in Westeuropa, vor allem in Frankreich und sogar in Deutschland, die Bürger wegen scheinbar kleiner Dinge auf die Straße gehen, um zu zeigen, dass auch die Regierung das Gesetz achten muss.